Die gestohlene Schöpfung by Widmer Urs

Die gestohlene Schöpfung by Widmer Urs

Autor:Widmer, Urs [Widmer, Urs]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257604719
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-04-28T16:00:00+00:00


[118] 12

Ich ging durch den Park, in dem ich geschlafen hatte (in allen Gebüschen Mulden), auf jene Hochhäuser zu, die mich schon am ersten Tag erschreckt hatten. Die Banken. Alle aus getöntem Glas, alle voll Geld, und zwischen allen Grünflächen aus Staub und Schmuckschalen, in denen dieselben roten Blumen wie im Hotelgarten wuchsen. Schon die Häuser der Bank für Gemeinwirtschaft oder der Deutschen Bank hatten sich in meinen letzten Frankfurter Tagen in drohende Riesen verwandelt; diese hier schienen mir regelrechte Ungeheuer zu sein, die die Fäuste, mit denen sie mich zerschmettern konnten, hinter ihrem Rücken verbargen. Aber ich musste in eines von ihnen hinein, in die Banco do Brasil, deren schwarze Gläser die kleineren Nachbarhäuser spiegelten. Ich hatte früher einmal ein paar Geschäfte mit ihr gemacht und konnte mich an einen Dr. Marquíz erinnern, der in der Frankfurter Filiale eine mittlere Position innegehabt und mir Elektroaktien hatte verkaufen wollen. Durch eine gewaltige Drehtür betrat ich das Gebäude und stand in einer kühlen Halle (Geld kühlt sogar in den Tropen), in der ich mich sofort mit der sicheren Selbstverständlichkeit von früher zu bewegen versuchte, denn gleich neben mir standen zwei Wachbeamte und musterten mich. Ich bestand die Prüfung (kein Zögern, kein Schlurfen) und stellte mich hinter mehrere wartende Kunden, um in ihrem Schutz [119] herauszufinden, wohin ich wirklich musste. Kunstlicht. Kunstluft. Überall Schalter. Im Hintergrund eine breite Treppe, die zu einer Galerie hinaufführte, auf der Männer in Nadelstreifenanzügen hin und her eilten. Frauen übrigens auch, alle jung und in makellosen Blusen und Röcken; nur gebrochene Farben. Ich ging zu einem Schalter, über dem foreign customers stand, und fragte den Mann, der dahintersaß, wo ich eine telegraphische Überweisung aus der Bundesrepublik einlösen könne. Er sah hoch (bleich, mit wasserblauen Augen), erstarrte für die Zeitspanne eines Lidschlags und stempelte dann weiterhin ungerührt rosarote Formulare. Als ob es mich nicht gäbe. Die Formulare hatten unter hauchdünnen Kohlepapieren himmelblaue Durchschläge, und auch diesen drückte er sorgfältig seinen Stempel auf. Ich schaute ihm schweigend zu, bis er endlich erneut den Kopf hob; seine Augen waren grün geworden. Ich sagte dasselbe nochmals (langsam und laut), aber er blieb versteinert. Erst als ich »Do you speaka englisha?« sagte, stand er wie von einer Natter gebissen auf, kurvte um mehrere Schreibtische herum bis hin zu einem weit hinten sitzenden Mann, zu dessen Ohr er sich beugte. Der sah zu mir herüber wie einer, der rein zufällig und absichtslos seine Blicke spazieren gehen lässt. Dann ging alles sehr schnell. Die zwei Wachbeamten, baumlange Schwarze, an deren Hüften Revolver baumelten, schubsten mich durch die Halle auf die Drehtür zu. Avanti, avanti, auf Portugiesisch. Ich rief, alles sei ein Missverständnis (auch auf Portugiesisch), und als ich schon in der Drehtür wirbelte, ich sei ein amigo von Dr. Marquíz. Aber dessen Name war kein Zauberlaut, und so stand ich so arm oder reich wie zuvor erneut auf dem Betonvorplatz. [120] Das Gebäude über mir schaute augenlos und ohne Gnade. Ich sah zu, dass ich aus dem Schlagbereich seines Schattens kam, eilte eine lange



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